02.11.2020
Keine Angst

Die Corona-Infektionszahlen steigen täglich und drastisch weiter an. Damit einher gehen unumgängliche, zeitlich befristete Beschränkungen des öffentlichen Lebens. Superintendentin Elke Rosenthal hat aus diesem Anlass in ihrer Predigt zum Reformationstag (31.10.) in der Arnstädter Bachkirche ihre Zuhörer*innen zu einem besonnenen, aber furchtlosen Leben ermutigt. Ihre Predigt im Wortlaut:

"Gnade sei mit Euch und Friede, von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Hört aus Matthäusevangelium Kap. 10, 26b-33

Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.
27 Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das verkündigt auf den Dächern. 28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet viel mehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. 29 Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. 30 Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt. 31 Darum fürchtet euch nicht; ihr seid kostbarer als viele Sperlinge. 32 Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel. 33 Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel.

Fürchtet euch nicht,
Sagt der Engel zu den Hirten in der allerersten Heiligen Nacht,
in dem Moment der totalen Verwirrung, als keiner weiß, was eigentlich los ist.
Warum ist es auf einem so hell? Warum sind da diese Stimmen wie aus dem off?  
Was steckt wirklich dahinter? Eine Verschwörung?

Fürchtet Euch nicht, denn Euch ist heute der Heiland geboren.  
Eine himmlische Verschwörung, die nun offenbar wird.
Fürchtet Euch nicht

Engelsworte. Heute spricht sie Jesus, das erwachsen gewordene Kind.
Er macht sie sich zu Eigen. Er sendet seine Jünger aus, immer zu zweit, unter die Menschen, damit sie auf den Dächern der Häuser die gute Nachricht vom Reich Gottes ausrufen. Das Dach als Kanzel, als Podest. Im alten Israel waren es Flachdächer, keine Satteldächer wie bei uns.

Die Botschaft muss unter die Leute. Sie ist nicht geheim, sie muss raus, in die Öffentlichkeit. Sie ist keine Verschwörung. Sie ist Gottes Plan mit seiner Erde, seinen Menschen, mit seinem Volk und seinen Völkern.

Die Zeit ist reif. Geht los. Ruft es von den Dächern:
Selig die Einsamen. Selig die Armen. Selig, die Trauer tragen. Selig die, die sich verloren fühlen. Selig die verfolgt werden, selig die Flüchtenden. Selig, die Gewalt erleiden. Die, die enthauptet werden, weil sie die Freiheit in den Schulen lehren. Selig die, die Frieden stiften zwischen den Religionen. Selig, die, die heute um ihr Leben bangen.

Im Reich Gottes haben sie einen Platz.

Und: Liebt einander! Auch Eure Feinde! Seid barmherzig! Vergebt einander! Gib dem, der dich bittet und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.
Vor allem aber: Fürchtet euch nicht!

Jesus bereitet seine Jünger auf schwierige Erfahrungen vor.
Wenn Ihr loszieht mit dieser Botschaft, wird es Menschen geben, die Euch lieben und welche, die Euch hassen, die Euch loswerden wollen, die Euch mundtot machen wollen.
Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können.
Das Evangelium ist kein Zuckerschlecken, obwohl es süß ist wie Milch und Honig.
Ihr seid kostbar. Und ich bin an Eurer Seite.
Wenn Ihr zu mir steht, stehe ich zu Euch. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.

Fürchtet euch nicht.

Ich fürchte mich gerade ziemlich.
Jeden Morgen fürchte ich mich vor den neuen Zahlen.
Wie viele Infizierte werden es heute sein?
Wie viele sind gestorben?
Und wie viele Intensivbetten gibt es noch?

Ich fürchte mich, wenn ich Menschen sehe, die ohne Maske eng beieinanderstehen oder sitzen, essen und trinken als gäbe es gerade überhaupt kein Problem.
Oder wenn ich sehe, wie vollgestopft manche Busse sind.
Und wenn ich die Schilder auf den Demos lese: „Masken töten“, „Keine Diktatur“.
Das finde ich zum Fürchten.

Fürchtet euch nicht, sagt der Engel, sagt Jesus.
Warum sollen wir uns nicht fürchten?

Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? fragt Jesus. So billig waren zwei Sperlinge auf dem Markt damals. Obwohl sie so billig sind, fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater, sagt er.

Gott weiß, was passiert. Wie es uns geht. Er weiß es, wenn der Spatz zu Boden fällt. Er weiß um die Infizierten, um die in Quarantäne, um die an den Beatmungsgeräten. Er weiß auch, wer die Menschen sind, hinter der anonymen Zahl von 10452 Toten.
Jesus beschönigt nichts. Er sagt nicht: Es fallen keine Spatzen mehr vom Himmel. Er sagt nicht: Bald ist die Pandemie vorbei. Er sagt nicht: Euch wird es nicht treffen.
Er sagt nicht: Bald ist alles gut.

In die Furcht hinein ruft er: Fürchtet Euch nicht!
Ihr seid doch kostbarer als viele Sperlinge. Bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht.

Gott vergisst keinen – übersieht keinen.
Keinen Sperling. Keinen Menschen. Keinen von uns. Er zählt alle.
Er zählt auch alle Tage unseres Lebens. Die, in denen wir sorglos und spontan und frei leben können und die, die so sind wie jetzt. An denen wir anders leben müssen. Uns zügeln. Auf uns und auf andere achtgeben, mehr als sonst. An denen wir uns meiden müssen. Auch diese dunklen und mühsamen und traurigen Tage zählt er.
Auch die Tage im November 2020, die morgen beginnen.
Er kennt den Sperling, der vom Himmel fällt. Er weiß von der Angst der Menschen in den Senioreneinrichtungen, die jetzt wieder eine Zeit ohne Besuch fürchten. Er weiß, wie blöd es für die Jugendlichen ist, so eingeschränkt zu leben.

So ein unverschämter Virus kann viel kaputt machen, kann uns an Leib und Seele schaden, kann uns Einsamkeit aufzwingen, in Depressionen stürzen, in Existenzängste, im schlimmsten Fall auch töten, aber - unsere Seele, sagt Jesus, unsere Seele – die kriegt er nicht. Unser Ich – das kriegt er nicht.

Der Reformationstag ist für evangelische Christen ein Anker. Gerade in diesen gefährlichen Zeiten tut es gut, wenn ich mich neu festmachen kann im Glauben, indem ich daran erinnert werde, was aus protestantischer Sicht das Wichtigste ist: Ich gehöre nicht mir selbst. Gott hat mir mein Leben geschenkt, von ihm komme ich. Und zu ihm gehe ich. Ich bin in seiner Hand. An jedem Tag meines Lebens. Mein Ich ist in Gottes Hand, was auch geschieht. Da ist es gut aufgehoben.

Das zu hören, verankert mich neu und lässt mich vertrauen. Das zu glauben, hat Martin Luther und den anderen Männern und Frauen vor 500 Jahren Kraft gegeben, gegen Papst und Kaiser aufzustehen. Das hat Christen in der DDR widerständig gemacht und ließ sie Freiheit einfordern. Das macht uns heute stark, ein unsichtbares Virus auszuhungern und dadurch Leben zu retten.

Als 1527 die Pest in Wittenberg ausbrach, schrieb Martin Luther: „Wenn Gott tödliche Seuchen schickt, will ich Gott bitten, gnädig zu sein und der Seuche zu wehren. Dann will ich das Haus räuchern und lüften, Arznei geben und nehmen, Orte meiden, wo man mich nicht braucht, damit ich nicht andere vergifte und anstecke und ihnen durch meine Nachlässigkeit eine Ursache zum Tode werde. Wenn mein Nächster mich aber braucht, so will ich weder Ort noch Person meiden, sondern frei zu ihm gehen und helfen. Siehe, das ist ein gottesfürchtiger Glaube, der nicht tollkühn und dumm und dreist ist und Gott nicht versucht.“

Mein Reformationstag heute ist schon ein ganz klein wenig wie Weihnachten.
Fürchte Dich nicht, ist die Botschaft am Reformationstag 2020, die ich höre. Nie bin ich verloren, in keiner Situation meines Lebens.

Was ich Euch sage in das Ohr, das verkündigt von den Dächern, sagt Jesus.
Im dunklen November wird er wieder leuchten, der Stern auf dem Turm der Oberkirche. Über den Dächern der Stadt. Zu unserem Trost. Wenn Ihr ihn seht, erinnert Euch an Jesu Worte: Fürchtet Euch nicht!

Weil Reformation 2020 schon ein bisschen weihnachtlich ist, gibt es am Ausgang heute für Sie ein Licht. Zum Mitnehmen nach Hause. Für jeden Haushalt eins. Anzuzünden im November.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft,
und größer als all unsere Furcht,
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen."