Trauer und Freude

„Kennen Sie das Kinderbuch ‚Hirsch Heinrich‘?“ fragte mich eine Frau, der ich zu ihrem 80. Geburtstag gratulierte. „Hirsch Heinrich bricht aus dem Zoo aus und wird dann im Wald von den Kindern gefüttert.“

„Natürlich kenne ich Hirsch Heinrich!“ sagte ich.„Wenn Schnee liegt, so wie jetzt, dann denke ich oft an Hirsch Heinrich“, sagte die Jubilarin. Das Bilderbuch habe ich meinen Kindern vorgelesen. Immer wieder und wieder. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass in dem Kinderbuch zwei Sorten von alten Menschen vorkommen?

Die einen singen 'sehr alte traurige Lieder'. Damit waren die Kirchlichen gemeint. Heute weiß das keiner mehr. Aber damals wussten wir das. Die Kirchlichen saßen in der Kirche und waren traurig. Und die anderen sind die 'lieben Omas und Opas, die im neuen Altersheim einen Schunkelwalzer tanzen'. Das waren die modernen, die fröhlichen.

Jetzt bin ich selbst alt. Und wissen Sie was? Manchmal möchte ich traurig sein. Weil ich viel verloren habe. So ist das, wenn man alt ist. Ich bin immer fleißig gewesen. Immer! Und jetzt kann ich nicht mehr fleißig sein. Das vermisse ich am meisten: das Fleißig-Sein.

Manchmal setze ich mich jetzt in die Kirche – so tagsüber. Da sage ich: 'Lieber Gott, ich sage dir jetzt alles, worüber ich traurig bin.' Und das mache ich auch. Das tut mir sehr gut. Und danach gehe ich nach vorne. Da kann man eine kleine Kerze anzünden und aufstellen. Und ich zünde die Kerze an und sage: 'Lieber Gott, bitte hilf mir, dass ich auch wieder fröhlich sein kann, und mich freue an dem Schnee und an der Kälte und dass ich keine Kohlen schaufeln muss und mit meiner Nachbarin Karten spielen kann. Ich kann traurig sein und fröhlich.'“

Die Weisheit dieser Frau habe ich bewundert. Der Prophet Jesaja sagt uns: "Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir."

Vikarin Julia Upmeier, Ilmenau