17.06.2022
Erzählen gegen die Angst

Superintendentin Elke Rosenthal hat am 17.06.22 eine Rede zum Gedenken an die Opfer des Volksaufstands in der DDR gehalten. Die Rede im Wortlaut:

Sehr geehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger,

ich danke für die Einladung, heute hier zu sprechen. Ich habe die Einladung angenommen.
Aber ich hatte Frau Korn, (die Vorsitzende der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, Landesgruppe Thüringen) vorgewarnt: Alles, was ich über den 17. Juni 1953 weiß, weiß ich nicht aus eigener Erfahrung und nur aus der Distanz.

Erstens bin ich später geboren – im Mai 1962, neun Monate nach dem Mauerbau, neun Jahre nach dem Aufstand. Zweitens bin ich im Westen aufgewachsen und habe die westliche Lesart dieses Tages inhaliert. Drittens spreche hier als Neubürgerin von Arnstadt. Ich weiß nichts über das, was heute vor 69 Jahren hier in Arnstadt geschah – das Einzige, was ich im Internet fand, entstammt den „Quellen zur Geschichte Thüringens, Der 17. Juni 1953 in Thüringen, (hg. von Andrea Herz, aus der Reihe des Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen). Ich zitiere von Seite 220:
„137. Schießbefehl und das Pro und Kontra in Arnstadt
Befehl 21/53 (BDVP-Chef Erfurt, an Kreispolizeien: 18.6., 0 Uhr)

Auf Anweisung einer höheren Dienststelle (Sowjets) befehle ich (ein Polizeichef aus Erfurt, Befehl an die Kreispolizeien):
Alle Provokateure, Saboteure, die sich im Laufe der Nacht und am morgigen Tage (=18. 6.) eines Angriffes auf Angehörige der Deutschen Volkspolizei, Staatsfunktionäre oder Herunterreißen von Emblemen der Deutschen Demokratischen Republik (z. B. Bilder von Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, des Genossen Stalin, sonstige Embleme und Transparenten) schuldig machen, werden im Beisein der Massen erschossen, ohne Urteil.

Es ist dabei streng darauf zu achten, dass nicht wahllos in die Massen geschossen wird, dass keine unschuldigen Kinder oder Frauen dabei getroffen werden, sondern die Täter sind durch einen kräftigen Stoß aus der Menge herauszuholen und auf der Stelle zu erschießen.
Die im Laufe des heutigen Tages und des gestrigen Tages festgenommenen Personen, die als Haupträdelsführer erkannt sind, werden heute sofort nach Erfurt überführt und morgen früh erschossen.
Wer sich einer Festnahme durch die Volkspolizei tätlich oder in einer anderen Form widersetzt, wird ohne Urteil erschossen.“

Das galt auch für Arnstadt in den Tagen um den 17. Juni 1953. Das war der Befehl. Wurde der Schießbefehl umgesetzt? fragte ich mich. Wurden hier, in Arnstadt, in unserem Landkreis, Menschen standrechtlich erschossen? Ich weiß es nicht.

Viertens spreche ich als Pfarrerin. Zur seelsorgerlichen Existenz gehört es, Lebensgeschichten erzählt zu bekommen und in sich zu bewegen. Da war so eine diffuse Wahrnehmung: Ich war Seelsorgerin in Kleinmachnow, dem Ort in Brandenburg, von denen manche sagen, er sei das Silicon Valley der DDR gewesen, an drei Seiten umschlossen vom ehemaligen Westberlin. Auch ein Ort mit einer besonderen DDR-Geschichte. Meine Wahrnehmung war, dass die Menschen, die in der DDR gelebt haben, eher weniger aus ihrem Leben erzählten. Bei Trauergesprächen entstand manchmal ein Bild in mir, wie sich das Leben in der DDR angefühlt haben könnte.
Ich spürte Vorsicht und Zurückhaltung bei denen, die erzählten. Abwägende Worte.

Das habe ich lange nicht verstanden. Heute verstehe ich besser, dass Schweigen und Zurückhaltung zur Überlebensstrategie der Menschen gehörten.

Als Schülerin im Westen genoss ich den 17. Juni als schulfreien Tag. Ein Feiertag in schönster Sommerzeit, bei gutem Wetter, Zeit, sich mit Freunden zu treffen. Warum dieser Tag Feiertag war, erschloss sich mir erst allmählich. Da waren diese Reden im Bundestag, hohe Festlichkeiten, Gedenken an die Opfer der Aufstände, da war das Rühmen des Freiheitswillens des deutschen Volkes, sogar Gottesdienste wurden gehalten! Aber da ging ich nicht hin. Ich war ein Kind der Mauer, kannte nur das geteilte Deutschland, das Leben in und mit zwei deutschen Ländern war meine Realität.

Anders bei meinem Mann, er ist 8 Jahre älter als ich – auch er im Westen aufgewachsen. Er erinnert sich daran, dass in seiner Schule vor dem Feiertag stets eine Gedenkstunde zum 17. Juni in der Aula der Schule abgehalten wurde. Der damalige Rektor, selbst Vertriebener aus den Ostgebieten, hatte eine enge Verbindung zu diesem Tag. Es war ihm aufgrund seiner eigenen Biografie wichtig, den Schülern ein Bewusstsein für die jüngste Geschichte zu vermitteln.
Meinem Mann stand sofort das eindrückliche Plakat des Kuratoriums Unteilbares Deutschland vor Augen, mit dem auch noch Ende der 1960er Jahre um den 17. Juni die Städte plakatiert waren: Auf rotem Grund ein schwarzes Deutschland, in drei Teile geteilt: West, Ost, und die polnischen Ostgebiete. In der Mitte, auf der DDR, in weißen Strichen das Brandenburger Tor. Darüber in fetter, weißer Schrift: „Deutschland dreigeteilt? Niemals!“ Die Ostverträge mit der Anerkennung der Oder-Neiße Grenze waren noch nicht in Sicht.

Frau Korn versorgte mich mit Material zum 17. Juni. Sie machte mich auch auf das in diesem Jahr hervorgehobene Gedenkjahr der sog. „Aktion Ungeziefer“ - 70 Jahre Zwangsumsiedlung in der DDR aufmerksam. Die grausame Bezeichnung wurde nachträglich zur Überschrift über die unmenschliche Zwangsumsiedlung gesetzt, ausgehend von einer handschriftlichen Mitteilung des thüringischen Innenministers Willy Gebhard vom 9. Juni 1952 an den 2. Sekretär der SED-Landesleitung Thüringen, Otto Funke (Quelle: Wikipedia): „Otto, diese Zahlen hat mir eben Gen. König durchgegeben. Das wäre das Ergebnis der Kommissionsarbeit zur Beseitigung des Ungeziefers.“

Ich hatte ja keine Ahnung. Ich entdeckte den äußerst sehenswerten Film des mdr aus der Reihe mit dem wunderbaren Titel: „Der Osten – entdecke, wo du lebst“ – das ist mein Motto.

Manchmal ist es so, dass Menschen Jahrzehnte brauchen, bis sie reden können. Die Geschichten der Menschen, die vor 70 Jahren, im Juni 1952 unter Zwang innerhalb der DDR umgesiedelt wurden, werden Gott sei Dank heute zunehmend erzählt. Viele Zeitzeugen leben noch. So gibt es in den Orten der ehemaligen Grenzgebiete, aus denen es zu Zwangsumsiedlungen von Menschen kam, in diesen Tagen Veranstaltungen und Ausstellungen, etwa in Streufdorf im Landkreis Hildburghausen. Menschen, die damals dort lebten, als Kinder oder Jugendliche, berichten heute in der Kirche von dem, was ihnen und ihren Familien angetan wurde.

Die zwangsumgesiedelten Menschen galten offenbar als „politisch unzuverlässig“ und wurden ihrer Heimat, ihrer Häuser und Höfe, ihrer Freunde beraubt. Häufig wussten die Familien gar nicht, warum gerade IHNEN dies widerfuhr und sonst keinem aus dem Dorf! Sie wurden enteignet und irgendwo im Inland der DDR zwangsangesiedelt. Sie wurden abgeholt, hatten nur wenige Stunden, um ihre Sachen zusammenzupacken. Es wurde ihnen nicht gesagt, wohin sie gebracht wurden. Oder es wurde ihnen gesagt, sie würden nur für vier Wochen „evakuiert“ – dies diene zu ihrem eigenen Schutz - und dann könnten sie zurückkommen. Nicht wenige befürchteten das Schlimmste: Dass sie irgendwo erschossen oder nach Sibirien gebracht würden.

Als sie an den geheim gehaltenen Zielorten ankamen, wurden ihnen unwürdige, behelfsmäßige Unterkünfte zugeteilt, eng, ohne Wasser und nicht beheizbar. In den jeweiligen Orten war bereits vorbereitend verbreitet worden, dass die, die kommen, Verbrecher, Kriminelle seien, denen man nicht trauen dürfe, denen man nicht helfen sollte. Ihr Ankommen wurde ihnen so schwer wie möglich gemacht.

Viele haben sich das Leben genommen. Oder es versucht. Vielen hat es das Herz gebrochen. Das Leben wurde nie wieder wie vorher. Das Zuhause war verloren. Am neuen Ort wohnten sie, aber sie lebten nicht wirklich. Und sie durften nicht über ihre Vergangenheit reden, nicht über das, was ihnen genommen wurde, nicht über ihre eigene Geschichte. Es wurde ihnen angedroht, dass es ja noch viel schlimmer kommen könnte für sie oder ihre Familien … Und so schwiegen sie und blieben häufig Fremde am neuen Ort.

Nicht wenige Kinder und Enkel der zwangsumgesiedelten Generation begriffen erst nach Jahrzehnten die Geschichte ihrer Familie. So gründlich wurde darüber nicht gesprochen. Für viele war erst nach 1989 der Bann des Schweigens gebrochen.  

Die Strategie der Einschüchterung funktionierte natürlich auch bei denen, die in den Dörfern verblieben sind. Die Deportation der Nachbarn war eine Warnung: Wenn ich gegen den Staat aufmucke, werde ich vielleicht auch deportiert …

Wie gut, dass diese Zeit vorbei ist. Aber es reicht nicht, Denkmäler zu besuchen und Kränze niederzulegen.

Wir müssen heute diese Geschichten erzählen, hören und erinnern, die lange nicht erzählt wurden. Wenn sie nicht erzählt werden, wenn sie nicht erinnert werden, können wir uns nicht schützen vor der Gewalt, die in jedem System entstehen kann. Wir müssen erkennen können, wie die Gewalt entsteht, wie das System aus Druck und Schweigen funktioniert. Wir müssen lernen, wie die Gewalt es macht, dass die Angst in die Herzen kriecht und unter die Haut. Und wir müssen lernen, woher der Mut kommt, trotzdem zu widerstehen.

Nur wenn wir die Geschichten eines totalitären Systems kennen, haben wir die Chance, den Anfängen zu wehren. Auch eine Demokratie ist nicht davor gefeit, umzukippen.

Es braucht also Menschen, die erzählen, wie sich so eine Diktatur anfühlt. Was sie mit den Menschen macht. Wie sie funktioniert. Und was der Mut kostet, dagegen aufzustehen.
Es braucht diese Geschichten. Und es braucht Menschen, die zuhören und das Gehörte auf sich wirken lassen. Und die vom Erfahrungsvorsprung der anderen lernen.

Und es braucht Gelegenheiten, diese Menschen zusammenführen. Erzählräume. Erfahrungsaustausch. Es braucht Brückenbauer. Und es braucht Hände, die gereicht und genommen werden. Und es braucht Brot, das gebrochen und geteilt wird.  

Lasst uns unsere Geschichten erzählen. Einander zuhören. Dann haben wir eine kleine Chance, Schlimmes für die Zukunft zu verhindern. Wir stehen auch heute vor enormen Herausforderungen. Aber wem sage ich das?

Sie wissen das ja. Und das ist gut. Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören – als eine, die das alles nur von der anderen Seite kennt.


Superintendentin Elke Rosenthal
Arnstadt, 17. Juni 2022