Zauber des Anfangs

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – so lautet die Überschrift zu einem Krippenspiel.

Wir haben es in einer kleinen Gruppe im Jahre 2000 geschrieben. Ein heiter-ernstes Spiel für erwachsene Darsteller und Kinder der Ollendorfer Laienspielgruppe. Da kommen natürlich alle wesentlichen Figuren vor: Maria und Joseph, die Hirten, die drei Weisen, König Herodes usw. Doch die Hauptrolle spielen drei Nebendarsteller. Drei Mädchen, die die Rahmenhandlung abbilden.

Ganz zu Beginn entdecken sie auf dem Dachboden in einer alten Truhe der Großeltern geheimnisvolle Dinge: ein Tanzkleid mit filigranen Spitzen, eine alte Nickelbrille, ein verschnürtes Päckchen mit Liebesbriefen aus der Jugendzeit von Oma und Opa und – eine verstaubte Konfirmationsbibel. Ein Mädchen schlägt das alte Buch auf. „Es begab sich aber zu der Zeit…“, liest sie vor. Sie versteht nur Bahnhof. „Was ist das für eine Geschichte?“ „Na, das ist doch die Weihnachtsgeschichte“, antwortet ihre Freundin. „Das ist vielleicht eine ganz nette Geschichte. Die hat aber mit dem Leben heute nicht mehr viel zu tun, denke ich“, meint das erste Mädchen, skeptisch. „Warum eigentlich nicht…?“, sagt, mit fröhlichem Lachen, die Dritte. Und das Spiel beginnt.

Die Frage danach, was diese Weihnachtsgeschichte mit dem Leben heute zu tun hat, stellt sich uns – alle Jahre wieder. Sie steht mit der biblischen Erzählung von der Geburt jenes Kind-Königs im Stall von Bethlehem und mit dem Krippenspiel gewissenmaßen auf dem Spiel. Es kann gelingen oder misslingen, kann uns unmittelbar ansprechen, anrühren. Oder auch nicht.

Es liegt an der Spielfreude der Darstellerinnen und Darsteller, an der Predigt des Pfarrers, am Klang der Lieder und – an unserer Aufnahmebereitschaft. Mit geschlossenen Händen kann man nichts empfangen. Mit einem harten Herz nichts empfinden. „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, sagt der Fuchs zum kleinen Prinzen in jenem wunderbaren Buch von Antoine de Saint-Exupéry. Weihnachten ist eine Gelegenheit, das Sehen mit dem Herzen zu üben. Die Weihnachtsgeschichte sollte uns zu einer Herzens-Angelegenheit werden. Weit über diese drei Tage hinaus.

An Ende des Ollendorfer Krippenspiels hat es die drei Mädchen aus der Rahmenhandlung (die auch zwischendurch immer mal wieder auftauchen) voll erwischt. Jetzt laufen sie zu Hochform auf. Sie sind in die Hauptrollen hineingewachsen. Das skeptische Mädchen ist begeistert: „Zuerst habe ich gedacht: Was soll die Geschichte aus diesem alten Buch deiner Großmutter. Aber jetzt habe ich das Gefühl: ich bin mittendrin.“ Ihre Freundin bestätigt dies mit großer Geste: „Alle, die wir nun hier sind – wir sind am Ziel.“ Doch das dritte Mädchen bringt die Sache auf den Punkt, nein, ins Rollen: „Ich glaube, du irrst dich. Wer bei diesem Kind ankommt, ist nicht am Ziel. Der steht vielleicht vor einem ganz neuen Anfang.“

Ich wünsche dir ein herz-ergreifendes Weihnachtsfest und – einen neuen Anfang. Einen Anfang mit dem Gottessohn Jesus Christus, dem Schöpfer des Himmels und der Erde, ein Ergriffensein von jener nie versiegenden Liebeskraft und Energie. Wo du das finden kannst? Vielleicht in der Konfirmationsbibel deiner Großmutter. Oder in einem Gespräch mit jemanden, der auf dem Jesus-Weg schon einige Schritte ausprobiert hat. Dann kann es geschehen, dass du mit Herrmann Hesse und den Ollendorfer Laienspielern sagen wirst: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Thomas A. Seidel, Pfarrer im Kirchenkreis Arnstadt-Ilmenau