Wo man singt...

Kantor Hans-Jürgen Freitag, Ilmenau

Der Volksmund ist manchmal widersprüchlich. Oft sagt er zu ein und derselben Sache höchst unterschiedliche Dinge: "Wo man singt, da lass dich ruhig nieder" - klingt gut, ist aber leider falsch! Denken Sie nur an die ganzen Kriege, die stets auch mit musikalischer Begleitung geführt wurden. Die Söldner im dreißigjährigen Krieg mit ihren Landsknechtsständchen, die Waffen-SS mit flotter Marschmusik, bestimmt wird in den Ausbildungscamps des IS auch gesungen. Es mir da gemütlich machen, mich da niederlassen? - Lieber nicht.

Eine andere Volksweisheit ist mir schon als kleiner Junge begegnet "Der Vogel, der am Morgen singt, den holt am Abend die Katz" - glücklicherweise auch falsch! Wie kommt es, dass das Thema Gesang schon im Sprichwort so unterschiedlich bewertet wird? Einerseits als Garant für Gemütlichkeit und Vertrauenswürdigkeit, auf der anderen Seite als Hinweis auf Leichtsinn und unvorsichtigen Umgang mit den Realitäten des Lebens.

Singen kann ungeheuer beglückende Gefühle auslösen. Ähnlich wie bei der Freude über einen Bewegungsablauf beim Sport ist Singen eine Tätigkeit, der ich mich vollkommen hingeben kann. Nur muss ich selber singen, genauso wie ich mich beim Sport selbst bewegen muss. Mein Atem, der Grundvoraussetzung meines Lebens ist, wird Klang. Dieses Glück ist gibt es übrigens beim Konsum von Tonträgern eher selten, schon gar nicht bei musikalischer Dauer-Berieselung - vom Sportschau-Gucken wird man auch nicht sportlich.

Manchmal macht man beim Singen eine erstaunliche Erfahrung. Ich singe, und mir begegnet auch ohne Text eine ganz andere Sprache als die gesprochene des Alltags: die Sprache der Musik. Diese musikalische Sprache folgt, wie die gesprochene Sprache auch, ganz eigenen Regeln. Es gibt eine innermusikalische Logik mit Grammatik, Syntax, usw., die sich mir erschließt, auch ohne dass ich die Regeln benennen muss. Das muss ich bei der gesprochenen Sprache ja auch nicht um sie verstehen und sprechen zu können.

Solches Singen ist wunderbar, wird aber natürlich auch sehr mißtrauisch beäugt: Einerseits die Verzauberung durch sinnfreies Tun wie bei einem Kind; da möchte "ich mich dann ruhig niederlassen" weil meine Ursehnsucht nach Geborgenheit davon berührt wird. Andererseits der Zweifel, ob solches Singen denn zu irgendwas nütze ist. Bei solcher Sinnfreiheit lauert die "abendliche Katz" schon deshalb, weil man in der Regel kein Geld damit verdient. Der Sonntag "Kantate" ("Singet") ist genannt nach dem lateinischen Beginn des Psalms 98 "Cantate Domino canticum novum" - "Singet dem Herrn ein neues Lied!"

Der für mich schönste Abschnitt des Psalms fordert sogar die unbelebte Natur zum Lob Gottes auf "Es donnere das Meer ... Die Ströme sollen in die Hände klatschen und die Berge jubeln..." Singen ist mehr als Sprache des Alltags, und auch wenn es - wie alles - zum Bösen missbraucht werden kann, erlebe ich hier vielleicht sogar eine Welt, die über unsere beschränkte Welt hinausgeht.