Weihnachtliche Lichtblicke

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen in finstern Lande, scheint es hell.

Diese uralten Worte finden wir in der Bibel, im Alten Testament, im Buch des Propheten Jesaja (9,1).

„Soso. So scheint es…“, höre ich meinen Opa Albert murmeln. Er hatte Krieg und Gefangenschaft erlebt. Und zuvor: scheinbar felsenfeste Wahrheiten des Führers, die von (fast) allen geglaubt wurden. Auch von vielen Kanzeln tönte das Echo politischer Floskeln. Opa Albert musste erleben, dass dieser Größenwahn in ein Tal des Todes und der Tränen gemündet war. Und so war und blieb er skeptisch. Auch in den neuen sozialistischen Zeiten, die nach dem Krieg angebrochen waren. Ich habe ihn sehr gemocht. Er war nicht verbittert. Zum Glück. Mit einem Augenzwinkern sagte er zu uns, seinen Enkelsöhnen, während er uns übers Haar strich: „Glaubt nicht alles, was man euch erzählt.“

Doch manchmal verlor auch mein spitzbübischer Opa seine Skepsis. Ganz besonders beim fröhlichen Singen der von ihm geliebten Advents- und Weihnachtslieder. Eines davon nimmt die Ankündigung des Jesaja auf. In der ersten Strophe heißt es (Ev. Gesangbuch Nr. 20):
 
Das Volk, das im Finstern wandelt – bald sieht es Licht, ein großes Licht.
Heb in den Himmel dein Gesicht und steh und lausche, weil Gott handelt.

Den Blick heben, aufmerksam sein, achtsam. Lauschen. Töne und Misstöne unterscheiden. Weil Gott handelt. In allem, was geschieht? Wirklich? Die zweite Strophe benennt die schmerzhafte Realität, die uns bekannten Erfahrungen von Unsicherheit, Angst und Todesgefahr:

Die ihr noch wohnt im Tal der Tränen, wo Tod den schwarzen Schatten wirft:
Schon hört ihr Gottes Schritt, ihr dürft euch jetzt nicht mehr verlassen wähnen.  

Oma Hedwig hatte da keine Zweifel. Im Unterschied zu ihrem Mann hatte sie von Anfang an die langen Reden des Führers, die via „Volksempfänger“ in jeden Haushalt schnarrten, zu schrill und irgendwie falsch und böse gefunden. So, wie sie es eindrucksvoll von ihrer Mutter gelernt hatte, so vertraute auch Oma Hedwig jenen uralten Worten. Die standen doch in der Familienbibel. Dort ist sie zu finden, die heilsame Kraft der Zuneigung, der Zärtlichkeit und Liebe. Es braucht unsere Offenheit, unsere Empfangsbereitschaft. So, wie es die dritte Strophe besingt:

Die Liebe geht nicht mehr verloren. Das Unrecht stürzt in vollem Lauf.
Der Tod ist tot. Das Volk jauchzt auf und ruft: Ein Kind ist uns geboren!

Advent und Weihnachten sind Zeiten der Übung. Jene Wochen und Tage sind uns gegeben, uns in die Liebesenergie der Weihnacht hineinzulauschen, hineinzusingen, hineinzuschauen. Wir können uns innerlich auf den Weg machen. Wir laufen mit den Hirten nach Bethlehem. Wir tauchen ein in jenes geheimnisvolle Bild der Gottgeburt.

„Soso…“, höre ich meinen Opa Albert aus weiter Ferne schmunzelnd sagen. Ungläubig staunend hatte er es erfahren, wie jene Lieder und diese Bilder uns dazu einladen, weihnachtliche Lichtblicke zu sehen, zu fühlen, zu genießen. Ich freue mich alle Jahre wieder darauf! Und ich bin mir ganz sicher:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen in finstern Lande, scheint es hell.


Thomas A. Seidel, Pfarrer