Satt werden

Jeder Trabi wurde gefeiert, mit Lichthupe begrüßt – noch wochenlang. Sekt auf der Bornholmer Straße. Menschen, die sich noch nie begegnet waren, umarmten sich. Sowas hatte noch keiner erlebt.

Können wir diese Bilder noch in uns wachrufen? Die Gefühle, die uns bewegten, als der Schlagbaum geöffnet wurde? Die unbändige Freude, das Nicht-Glauben-Können, das Staunen über ein Wunder, das über uns kam. Da war zuerst Nervosität und Sorge – stimmt das wirklich? Ist die Grenze wirklich offen? ´Rübermachen - für einen Abend, eine Nacht – werde ich dann auch wieder reingelassen?

Manche wussten: Da ist ein großes Polizeiaufgebot im Hintergrund. Eine Burg war für viele Gefangene vorbereitet. Würde es ohne Blutvergießen abgehen?

Die Waffen der Protestleute waren Kerzen und Gebete.


Das haben wir nicht verdient“,

sagte ein über 90-jähriger Pfarrer im Ruhestand auf meine Frage, wie er die Wiedervereinigung erlebt hat und was er heute sagen würde, wenn er zu predigen hätte. 30 Jahre später. WIR, sagte er, wir Deutsche haben so viel Krieg und Gewalt und Hass in die Welt gebracht. Und uns wird solch ein Geschenk gemacht! Das haben wir nicht verdient. Und doch hat Gott es uns geschenkt.

Auf dem Hintergrund dessen, dass die Teilung Deutschlands eine Folge des Nationalsozialismus und des unsäglichen Krieges war, wird das Wunder, das unverdiente Geschenk noch größer.

Einer nach dem anderen erzählte die je eigene Geschichte, die je eigene Sicht. Ich lernte fünf Ost-Biografien kennen, von Menschen, die in der evangelischen Kirche gearbeitet haben, als Pfarrer, als Diakon, als Pfarrfrauen. Alle so zwischen 60 und 95 Jahre alt. Durchweg: Dank. Glück. Dass wir das erleben konnten. Dass die Ideologie am Ende saft- und kraftlos war. Und wir frei wurden. Reisen konnten! Dass der Spitzelstaat ein Ende hatte. Mehrfach hörte ich: „Ich hätte gerne studiert, aber ich durfte nicht.“

Dann war ich dran mit Erzählen. Als letzte. Und ich dachte beschämt: Was habe ich denn zu erzählen? Eine typische und mir im Kontrast langweilig erscheinende West-Biografie, ohne nennenswerte existentielle Herausforderungen, ich konnte studieren, ich wurde nie diskriminiert, ich konnte immer meine Meinung sagen, Demokratie hatte ich mit der Muttermilch aufgesogen. Musste ich jemals um etwas kämpfen? Etwas aushalten? Ich wurde nie bespitzelt, in einem ethischen Konflikt hatte ich nie gesteckt. Es ging alles glatt, es lief.

Und dann habe ich genau das gesagt.

Kopfnicken. Verständnis für ein ganz anderes Leben. Ja, so anders waren unsere Leben. Man muss es nur aussprechen. Und jetzt saßen wir zusammen und tranken Kaffee und erzählten uns das alles. Das war ein gutes Gefühl.


Vergeben zu können ist etwas Wunderbares“,

sagte die Frau, die ihr Alter nicht kennt, ihren Namen nicht, ihre Eltern nicht. Die nicht weiß, wo sie geboren wurde. Jahrzehnte hat sie gebraucht, bis sie reden konnte. Eva Stocker kannte ihre Mutter nicht. Aus einem Deportationszug nach Auschwitz hat ihre Mutter ihr Baby auf dem Bahnsteig in Košice irgendwie herausreichen können, einem Bahnwärter in den Arm gedrückt. Sie hat ihr Baby losgelassen in der Hoffnung, dass es überleben würde. Dies war das Letzte und Größte, was sie für ihr Kind tun konnte.

Das Kind, etwa 75 Jahre später, saß vor drei Wochen in unserer Liebfrauenkirche und zeigte ihren Film, die Recherche ihres Lebens. Welch ein Geschenk für unsere Kirche.

Eine andere Zeitzeugin, Eva Pusztai, brauchte nach ihrer Befreiung aus Buchenwald zwei Jahre, bis sie aus ihrer Depression herausfand. Bis sie wieder anfing, an eine Zukunft zu glauben. Und dann dauerte es noch einmal Jahrzehnte, bis sie über ihr Schicksal sprechen konnte. Noch heute tut sie es, vor Schülern in Deutschland. In diesem Jahr per Videoschaltung hinein in die Klassenzimmer.


Ich war 11 Jahre Pfarrerin einer Gemeinde in Brandenburg. Und ich hatte oft das Gefühl: Die Geschichten von Menschen in der DDR kommen nicht vor. Warum werden sie nicht erzählt? Warum reden die Menschen nicht über das, was sie erlebt hatten?

Allein - anlässlich von Beerdigungen war es ein wenig anders. Im geschützten Raum der Familie wurde mir dann erzählt:

Wie gut und geborgen sie aufwuchsen. Dass es in der DDR trotz aller Probleme und Entbehrungen doch auch schön war. Es war einfach ihr Leben. Familie war wichtig. Zusammenhalt. Man war ja aufeinander angewiesen. Man lernte, vorsichtig zu sein und zwischen den Zeilen zu lesen. Selbst im Sperrbezirk hatte man so seine Tricks. Und die vielen Handwerker und Schneider! Die Stoffe kamen aus dem Westen. Ein nachhaltiges Handwerk. Heute wieder ganz aktuell!

Und der Pfarrer, der 30 Jahre in seiner Gemeinde blieb, der nicht in den Westen ging, wie seine Brüder und sein Vater. Der die sammelte und beriet, die Ausreiseanträge gestellt hatten und dann so vieles erdulden mussten. Und der dann, in der Wendezeit, den runden Tisch in Kleinmachnow organisierte. Ich durfte ihn beerdigen auf dem Kirchhof, auf dem er selber unzählige Male gestanden war.


Ich habe das Gefühl, allmählich kommt die Zeit des Erzählens. 30 Jahre hat es vielleicht gebraucht. Und es wird auch über das gesprochen, was nach der Wiedervereinigung geschah. Über die Brüche in den Biografien, über die Arbeitslosigkeit, über den Exodus von Millionen meist junger Menschen in den Westen. Ja, auch das alles muss ausgesprochen und erzählt werden: Die Enttäuschung, dass der Westen nicht das Paradies ist. Dass ich mir Glück nicht kaufen kann.

Jesus hat das gewusst. Und die Menschen, die ihm zuhörten, auch. Sie lagerten auf der Erde, schon seit mehreren Tagen hingen sie an seinen Lippen und sogen seine Worte auf. Eine ganz gemischte Gruppe, Juden, Heiden, also Menschen mit einer ganz anderen Religion. Jesus fragte gar nicht nach ihrer Religion - er sah ihren Hunger nach Leben. Nach einem Gott, der sie nicht verurteilt. Dem sie ihre Brüche, ihre Enttäuschungen, ihr Erschöpft-Sein, ihre Trauer, ihre Wut zeigen konnten. Und das, was sie falsch gemacht haben. Worüber sie nicht reden wollten, was sie aber immer in sich trugen.

Da ist die ganz alte Frau, die dem Seelsorger anvertraut: „Wir haben doch alles falsch gemacht in unserem Leben. Erst sind wir sind Hitler hinterhergelaufen, dann haben wir unsere Kinder in die FDJ geschickt ...“

Und er reicht ihr das Brot und spricht Worte der Vergebung.


Jesus sieht den Hunger der Menschen. Und er sieht ihren Hunger nach Brot.

 

Ein Geschenkwunder ähnlicher Art wie das, das wir erlebten vor 30 Jahren. Niemand hatte das erwartet. Woher sollte in der Wüste auch Essen kommen? Und für ein paar Tausend schon gar nicht. Keiner hielt das für möglich. Keiner hat nur im Leisesten daran gedacht, dass sowas passieren könnte.

Er sieht selbst die Not und handelt. Sieben Brote gibt es noch. Sieben – das ist Fülle und Ganzheit. Am Ende bleiben sieben Körbe mit Resten übrig.

Viertausend Menschen – die 4 erinnert an die vier Himmelsrichtungen, aus denen die Menschen kommen. 1000 klingt vollkommen. Eine runde Sache. Jesus nahm die Brote, dankte, brach sie und gab sie den Jüngern, die sie an die Menschen weitergaben.

Ich sehe Menschen aus dem Osten, aus dem Westen, aus dem Norden und dem Süden. Ich sehe Überlebende aus Buchenwald und Auschwitz. Ich sehe Überlebende des zweiten Weltkrieges und deren Kinder und Kindeskinder.

Ich sehe Menschen aus Moria.

Alle werden satt.

Und da ist auch eine Gruppe von Menschen, die seltsame Tücher vor Mund und Nase tragen. Sie sitzen mit größerem Abstand zueinander.

Auch sie bekommen vom Brot. Alle werden gestärkt für ihren Heimweg. Für das, was vor ihnen liegt. Für ihre Zukunft.

Denn noch ist die Sache nicht rund, noch ist die Einheit nicht vollendet. Es gibt da wohl noch einen inneren Spalt – wie sollte das auch anders sein, nach nur 30 Jahren? Wir brauchen noch etwas Zeit, uns bleiben noch ein paar Aufgaben.

Was können wir evangelische und katholische Christen tun, um zu helfen, wirklich zusammenzufinden?

Wir können in unseren Gemeinden, in den Schulen, in den Einrichtungen, in denen wir wirken, eine Atmosphäre des Vertrauens aufbauen. Räume öffnen, in denen unsere Geschichten erzählt werden können. Und in denen sie eingebettet werden in die große Geschichte der Menschheit. Und in die noch größere Geschichte Gottes mit uns Menschen.


Es ist so wunderbar, vergeben zu können“, sagte die Frau, die losgelassen wurde, weil sie so geliebt war. Und es ist wunderbar, neu anfangen zu dürfen. Weiterzumachen. Mitzugestalten. Anzufangen mit einem Stück Brot. Mit einem Gedanken. Mit einem Gebet. Mit einem Lied.

Gott will, dass alle satt werden.

Keiner soll hungern. Niemand soll ertrinken. Niemand soll in Bitterkeit sterben. So klar und einfach ist das Evangelium. Und so schwer. Und so provokant. Dafür musste Jesus sterben. Irgendwie war das absehbar.

Aber nach seinem Tod – da hat er wieder Brot und Fisch geteilt.

Ach, worüber man eigentlich gar nicht sprechen kann, davon muss man singen: Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht


Predigt zum Ökumenischen Gottesdienst anlässlich des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit in der Bachkirche Arnstadt, 3. Oktober 2020

Predigttext: Markus 8, 1-9 (Die Speisung der Viertausend)

Elke Rosenthal, Superintendentin, Arnstadt