Nikodemus

Manche Gespräche kann man nicht am Tag führen.

Da wird gearbeitet, eingekauft, noch zur Mutter, die Kinder versorgen, schnell noch diese und das. Alles ist getaktet. Aber am Abend, zwischen Feierabend und dem Zubettgehen, da kommt die Muße, da kommen wir zu uns selbst, in der Ruhe kommen die Fragen und da merken wir, was wir wirklich brauchen. Jetzt würde ich gerne mit jemandem reden. Über das, was fehlt. Über das, was nicht aufgeht im Alltäglichen. Über das, was ich mir selbst nicht geben kann. Über den Sinn hinter allem.

Nikodemus ist so ein Suchender. Ein Fragender. Er macht sich auf, in der Nacht, zu Jesus. Zwischen Feierabend und dem Zubettgehen.

Gibt es das heute noch? Dass einer so ganz spontan jemanden besucht? Ohne Vorankündigung. Und wenn wir das nicht mehr machen, ist die Sehnsucht danach dann auch weg? Mit wem spreche ich über das, was mir wirklich wichtig ist? Und: Geschieht das eigentlich noch in der Kirche?

Reden über das Neugeboren-Werden, das Neu-Werden, das Neu-Anfangen. Was ist das Reich Gottes? Wie gelingt mein Leben?

Kurzentschlossen gehe ich mit Nikodemus mit zu Jesus. Jesus lässt uns ein. Ich staune. Kein Rausschmiss. Kein: Ihr hättet Euch ja anmelden können. Es passt mir gerade nicht. Lasst uns einen Termin machen.

(So würde ich das vermutlich machen.)

Nikodemus redet Jesus mit „Rabbi“ an. Lehrer. Und Jesus, der Lehrer, gibt ihm gleich einen schweren Brocken zum Nachdenken: „Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird …“
„Wie können wir wieder in den Leib der Mutter eingehen und von neuem geboren werden?

Ach, das mag ich an Nikodemus. Sag ich den Konfirmanden auch immer: Genau nachfragen! Kritisch sein!

Aus Geist von neuem geboren werden. Was ist das?

Als Frau beschäftigt mich Bild des Geborenwerdens. Geboren werden ist ja etwas zutiefst Passives. Es geschieht an mir. Ob ich will oder nicht. Ich werde nicht gefragt. Auf einmal bin ich da. Hineingeworfen in meine Existenz.

In der Pandemie spüre ich es auch: An mir geschieht so vieles, was ich nicht steuern kann. Ich bin vielem ausgeliefert. Fremdbestimmt. Eingeschränkt. Gefahren ausgesetzt.


Was meint da "Geboren werden aus dem Geist"?
Aus dem allumfassenden Sinn und Sein Gottes? Dann gäbe es also doch eine Verbindung zu Gott? Dann wäre ich mit Gott verbunden? Dann würde mein Sein nie und nimmer aufgehen im Alltäglichen? Dann wäre ich vom Geist geboren, hätte den Geist als Mutter, wäre ihm ausgesetzt, ausgeliefert, wäre mitten in aller Gefährdung des Lebens gehalten, getröstet, geborgen? Dann gäbe es eine Verbindung, aus der ich nicht herausfallen kann? Ist das denn möglich?

Komm, Nikodemus, raune ich ihm zu, wir gehen jetzt mal. Mehr brauche ich für heute nicht. Das ist genug Stoff zum Nachdenken.

Wir gehen.
Ich gehe nach Arnstadt in mein Leben. Nikodemus bleibt in seiner Welt. Später wird er Jesus verteidigen. In einer kritischen Situation, als sich die Lage zuspitzt und Jesu Feinde Pläne schmieden, wie sie ihn kaltstellen können. Da macht Nikodemus den Mund auf und stellt ganz naiv folgende Frage: „Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, ehe man ihn angehört und erkannt hat, was er tut?“

Seine dritte Begegnung mit Jesus: Joseph von Arimathäa und Nikodemus legen den toten Jesus in ein Grab. Der reiche Nikodemus kauft sage und schreibe hundert Pfund Aloe und Myrrhe, kostbare Salben, mit denen sie seinen toten Körper nach jüdischem Ritus salben.

Christliche Ausleger fragen immer: Ist der jüdische Pharisäer Nikodemus nun also ein Christ geworden?

Ehrlich, das ist mir total egal. Ob Jude oder Christ,  Kirchenmitglied oder nicht, er hat Jesus hoch geschätzt. Und er hat seinen Mund aufgemacht. Und er hat im richtigen Moment Fragen gestellt.

Warum müssen wir die Menschen immer irgendwo einsortieren? In Religionen, in Konfessionen, in Parteien, in irgendwelche Schubladen.

Alle sind wir Menschen. Und Kirchen sind für Menschen da. Für alle. Diese Bauwerke erinnern uns daran, dass es noch etwas anderes gibt. Etwas, was über das Alltägliche hinaus geht. Etwas, in dem wir nicht aufgehen.  

Darum freue ich mich, dass diese wunderschöne, barocke Schlosskirche von Menschen gehegt und gepflegt und gefeiert wird. Sie setzen sich dafür ein, dass der Zugang zum Geist bleibt. Manche der Engagierten sind in der Kirche und manche nicht. Sie alle sind Suchende wie Nikodemus. Sie spüren, wenn sie diese oder andere Kirchen betreten: Es gibt noch etwas Anderes. Etwas Wunderschönes. Etwas, was nicht aus Stein ist. Sondern aus Geist.

Elke Rosenthal, Superintendentin (Arnstadt); Predigt zum 300. Geburtstag der Molsdorfer Schlosskirche