Innehalten
Wenn ich in einem Seniorenheim einen Gottesdienst halte, dann kann ich durchaus mal über den Text eines alten Liedes predigen.
Hier sind solche Lieder bekannt. Die Sprache ist manchmal alt. Aber das hat auch seinen Reiz: da wird etwas ausgesprochen, was heutige Worte kaum aussagen. Ein altes Passionslied beginnt so: „O Mensch, bewein dein Sünde groß …“. Ich verstehe das Lied, also den Beginn, so: Das O am Anfang ist ein O des Erschreckens. Also etwa: Erschrecke du, Mensch! Schreck auf, beweine, wie du bist!
Der alte Text sagt: Bewein dein Sünde groß, also deine große Sünde. Beweine also deine Sünde – Beweine dein Tun und dein Lassen. Beweine dein Zaudern, dein Handeln, deine Gedanken und das, was du tust und wie du bist. Macht es Sinn, dass wir beweinen, wie wir sind? Nun, all das, schuldhaftes menschliches Handeln ist ja nicht fern von uns. In diesen Tagen des Krieges in der Ukraine töten Menschen einander! Es entsetzt uns!
Beweine, was zu dir gehört, beweine, wie du bist, sagt der Beginn des Liedes. Natürlich ist das für uns heute ein sehr fremder Gedanke. Uns geht es um Sinnsuche oder um work-life-balance. Um eine Auseinandersetzung mit uns selbst in dem Sinne, dass wir über uns selber weinen – darum geht es heute wohl kaum.
Im Kirchenjahr hat die Leidenszeit Jesu ihren festen Platz. Wir sind mitten in dieser Leidenszeit. Der Sonntag, der Palmsonntag, führt uns in die letzten Tage Jesu. Karfreitag stirbt er. Wir haben diesen Jesus mit seinem Leid und seinem Schmerz vor Augen. Gleichzeitig können wir empfindsamer werden für das Leid und den Schmerz unserer Welt.
Ich meine es so: unser Blick geht hin zu Jesus, der leidet, und so werden wir aufmerksamer für das Leid und den Schmerz in unserer Welt. Und dazu gehört auch folgender Gedanke: Ich selber bin es ja, der Unrechtes tut und Leiden bewirkt. Ich – so hieße das alte Wort dafür – bin ein Sünder. Das Lied sagt: O Mensch, beweine deine große Sünde. Was heißt das?
Wir können uns in der Passionszeit diesem Gedanken, wenn Sie so wollen, widmen: Ja, das gehört auch zu mir, dass ich falsch handle und vielleicht auch manchmal falsch bin. Ja, das gehört auch zu mir, dass ich das Gute will und das Böse bewirke. Das Lied sagt nun: „O, du Mensch, beweine das ruhig! Sei darüber traurig.“ Wir können uns in diesen Tagen der Passion Jesu darin üben, zu beweinen, wie wir sind. Wir halten inne. Wir können dadurch Reue empfinden. Wir bleiben an dem, was uns grämt und klein macht, oder wir bemerken, dass wir andere Menschen grämen und klein machen.
„O Mensch, beweine doch einen Augenblick lang wie du bist!“ Die Passionszeit regt uns dazu an, an diesem Gedanken zu bleiben. Ich kann ruhig mal beweinen, wie ich bin. Es tut gut, meiner Seele nachzuspüren. Schaue ich auf das Leben von Jesus Christus, dann kann ich mich selber besser verstehen. Jetzt, in der Passionszeit in nicht leichter Weise. Es geht um ernste Themen. Aber indem ich dies „beweine“, werde ich aufmerksamer, ja geläuterter. Aus dem Innehalten kann Reue erwachsen, aus dem Beweinen wird Freude, dass ich ja eine Chance zum guten Leben habe; aus dem Erschrecken wird ein Erwachen hin zur Freude.
Dr. Mathias Rüß, Pfarrer in Arnstadt