Glimmender Docht

„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“

Der Verfasser des 42. Kapitels des Jesajabuches beschreibt hier den Auserwählten Gottes. Später bezieht die christliche Kirche die Beschreibung des Auserwählten auf Jesus.

Mit der Figur dieses Auserwählten werden die scheinbar realen Verhältnisse von Kraft, Ansehen und Macht in Frage gestellt. Der Auserwählte, der, an dem „meine Seele Wohlgefallen hat“, ist ein Gegenentwurf zu den Mächtigen – den Mächtigen von vor mehr als 2000 Jahren und denen, die wir kennen. Der, der hier geschildert wird, ist kein starker Mann, der erstmal Ordnung schafft; keiner, der mit eisernem Besen kehrt. Zum Präsidentschaftskandidaten der USA würde er jedenfalls nicht taugen, wohl auch nicht zum Bundeskanzler.

Und doch ist er einer, mit dessen Erscheinen die großen Friedensvisionen und Verheißungen verknüpft sind. Einer, der ganz anders ist. Einer, der mit dem Unvollkommenen umgeht. Wenn ich mir die repräsentativen Orte der Mächtigen vor Augen führe, die schweren Schreibtische in eleganten herrschaftlichen Räumen, so ist er dort jedenfalls nicht denkbar. Mit zerknickten Rohren, glimmenden Dochten, angeschlagenen Tassen und sonstigen Unvollkommenheiten ist doch kein Staat zu machen. Kein Trump, Netanjahu, Putin oder Erdogan und erst recht kein König Salman, Kim Jong-un oder Assad würden sich damit abgeben.

Er wird „Recht bringen ... die Augen der Blinden öffnen ... die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.“ So steht es im Jesajabuch und so kann man es eigentlich nicht glauben. Meistens passiert das ja gerade nicht: Allzu oft wird Recht gebrochen, weder werden die Blinden sehend, noch die Gefangenen befreit. Der Waffenhandel blüht (keineswegs werden Schwerter zu Pflugscharen), der Profitmaximierung werden Umwelt und Klima geopfert, nach wie vor ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer. Diese Aufzählung ließe sich problemlos fortsetzen. Fest steht jedenfalls, das mit dem Rohr zerbrechen und dem Docht ausmachen kriegen wir sehr gut selber hin – auf den verschiedensten Ebenen.

Wäre es da nicht sinnvoller, endlich auf den starken Mann zu hoffen, nicht auf den Friedensfürsten? Leider genügt ein kurzer Blick in Gegenwart und Geschichte, um zu sehen, dass das mit den Starken und den charismatischen Führern erst recht nicht hinhaut. Dann lieber die subversive Idee vom Friedensfürsten weiter verfolgen und vorantreiben.

Das heißt nicht, gottergeben die Hände in den Schoß zu legen und sich damit zu begnügen, dass die Dinge nun mal sind wie sie sind. Das heißt vielmehr, dass man versuchen kann, mit am Friedensreich zu bauen (jeder nach seinen Möglichkeiten und auf seine Weise) – und dabei so gut es eben geht auszuhalten, dass wir auch immer wieder scheitern. So oft wird das Rohr geknickt und der Doch glimmt nur noch. Aber man kann ja versuchen, etwas daraus und daran zu machen. Das ist möglicherweise auf eine kreativere Art gottergeben. Und wenn man Glück hat, brauchen manche Dinge dann auch nicht zu bleiben, wie sie nun mal sind.

Hans-Jürgen Freitag, Kantor in Ilmenau