Freiheit und Liebe

Wir machen heute zwei Blitzbesuche: Speed-Dating mit Paulus und Luther. Und am Ende gibt’s Musik.

Nur - seien Sie auf eins gefasst: Sie könnten IHM begegnen, im musikalischen Raum, der sich am Ende öffnet: IHM, Christus, der für Dich und der für mich gestorben ist.  

Erster Blitzbesuch:
Wir reisen ins Jahr 55 unserer Zeitrechnung, nach Galatien, mitten in die heutige Türkei, südlich von Ankara. Von Erdogan ist noch keine Spur. Aber Paulus ist ganz präsent, jener unermüdlich Reisende im Auftrag des Herrn, der in dieser Gegend Gemeinden gegründet hatte. Diesen Gemeinden schreibt er einen zornigen Brief.

Ich lese aus seinem Brief an die Galater, Kap. 5, 1-6:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!
So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. 3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. 4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. 5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. 6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“.

Paulus ist außer sich. Seine Gemeinden laufen Missionaren hinterher, die fordern, dass sich alle beschneiden lassen sollen. Dabei sind die Menschen in den Gemeinden keine Jüdinnen und Juden. Beschneidung ist ihnen fremd! Für sie ist Christus der Weg zum Gott Israels, nicht das Gesetz. Für Paulus steht viel auf dem Spiel: Nichts weniger als die Freiheit.

Nun, Beschneidung ist gerade nicht unser Thema. Aber Freiheit schon:
Freiheit von den Corona-Regeln wird vielerorts gefordert. Ein Freedom-Day sogar!
Viele Menschen haben eine große Sehnsucht danach, ihre grundgesetzlichen Freiheitsrechte wieder leben zu können. Es wird viel diskutiert, Ungeimpfte fühlen sich diskriminiert:
2 G - 3 G -  3 G plus…
Wie können wir zusammenkommen als Geimpfte und Ungeimpfte? Und was passiert mit denen, die sich weder impfen noch testen lassen wollen, die alles verweigern?  

Ach, welche Freiheit meint denn Paulus?

Die Freiheit, die er meint, kommt aus dem Glauben: Zur Freiheit hat uns Christus befreit.
Paulus spricht oft davon, dass wir „in Christus“ sind, als öffnete sich ein Raum, in dem wir sein können, wie wir sind, unendlich geliebt von Gott, angenommen trotz unserer Schuld und Fehler und großen Irrtümer.

Freiheit für Paulus ist nicht Autonomie, nicht Selbstbestimmung. Im Gegenteil. Freiheit ist Bindung. Bindung an Jesus Christus, an seine Person, an seine Geschichte und an das, was daraus folgt. Zur Freiheit hat uns Christus befreit.
Was ist das für Paulus nun konkret?

In Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. (V. 6)

Liebe also. Sie macht Freiheit und Glauben konkret. Vielleicht ist das die Herausforderung für uns als Kirche in dieser Zeit: Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Liebe also.
Jemand hat mal gesagt: „Unsere einzige Aufgabe ist die Liebe.“

Welch eine Herausforderung!
Den anderen annehmen, obwohl er oder sie ganz anders ist als ich, ganz anders denkt als ich. Obwohl er oder sie über die Pandemie ganz anders denkt als ich. Und über die Impfung.
Er oder sie ist auch ein Kind Gottes.
Die Impfbefürworter, die ich kenne, sind sympathische, liebenswerte und kluge Menschen.
Die Impfskeptiker, die ich kenne, sind sympathische, liebenswerte und kluge Menschen.
Aber diese beiden Gruppen driften gerade ganz schön auseinander. Was ist hier unsere Aufgabe als Kirche?

Liebe, empfiehlt Paulus. Ich könnte auch sagen: Einander respektvoll begegnen, nicht aufhören, miteinander zu reden, einander zuhören, Differenzen aushalten. Auch wenn es schwerfällt. Den jeweils anderen nicht, wie Paulus es tut, vorhalten: Ihr habt Christus verloren. Ihr seid aus der Gnade gefallen! Sollten wir dieses Urteil nicht einem anderen überlassen, Paulus, das frage ich Dich.

Liebe also.
Ich bin anderer Meinung als Du.
Und du bist trotzdem mein Bruder, meine Schwester im Glauben. Gemeinsam sind wir in Christus, in jenem Raum, in dem wir uns nicht bewerten müssen, nicht labeln, in dem wir einfach sind. Dort können wir uns auch streiten, um Wege ringen und so verschieden sein, wie es nur irgend geht, wenn wir gemeinsam auf Christus schauen, sind wir verbunden.

In unserer Gesellschaft gibt es derzeit nur Schwarz und Weiß. Grautöne kommen nicht mehr vor. Die Pandemie trennt Menschen. Das ist falsch. Gegner reden nicht mehr miteinander. Fronten sind verhärtet. Risse gehen durch Familien, Gemeinden, Dorfgemeinschaften.
Und im Netz wird schwer geschossen. Freiheit in unserer Gesellschaft ist heute auch die Freiheit zur Jagd.

Wie wollen wir als Gesellschaft leben?
Welches Verständnis von Freiheit bringen wir als Kirche ein?
Kann unsere Gesellschaft verzeihen?
Wenn ein Mensch sich entschuldigt und ehrlich bereut?
Oder wird er einfach kaputtgemacht?
Wollen wir die gnadenlose Gesellschaft?

Alle an einen Tisch holen – oh ja, es müsste in der Pandemie allerdings ein sehr langer Tisch sein – aber war das nicht eigentlich immer schon unsere Stärke als Kirche?


Zweiter Blitzbesuch.
1521 in Eisenach. Vor genau 500 Jahren sitzt Martin Luther in der Wartburg, getarnt als Junker Jörg und übersetzt das Neue Testament.  Wenige Tage zuvor war er in Worms, auf dem berühmten Reichstag, sollte dort vor Kaiser und Reich seine Schriften und Thesen widerrufen.
Luther blieb standhaft: Sollte man ihn aber aus der Bibel und durch klare Gründe widerlegen, dann wolle er selbstverständlich alle Irrtümer widerrufen und der allererste sein, der seine Bücher ins Feuer wirft.
Luther wollte mit seinen Gegnern disputieren, um die Wahrheit ringen und streiten, aber darauf ließen sie sich nicht ein. Die Luther-Episode sollte ein kurzer Tagesordnungspunkt bleiben.

Luthers Haltung auf dem Reichstag zeugte von einer großen inneren Freiheit. Selbst vor dem Kaiser blieb er seinem Verständnis der Schrift und seinem Gewissen treu. Er selbst jedoch beschreibt seine Haltung nicht als frei. Im Gegenteil: Er sagt vor Kaiser und Reich: „Ich bin gefangen in dem Worte Gottes“. Seine Freiheit kommt aus einer Bindung. Er ist „gefangen“ im Worte Gottes.

Auf der Hinreise nach Worms hatte Luther in Naumburg Quartier genommen. Dort überreichte ihm ein Geistlicher ein Gemälde eines Scheiterhaufens, auf dem gerade ein italienischer Vorreformator verbrannt wurde. So als kleiner Vorgeschmack auf das, was ihn erwarten könnte ….

Auf dem Rückweg von Worms wird er sich viele Gedanken gemacht haben. Vielleicht hat er sich auch gefragt: Wo soll ich fliehen hin? Luther war nun geächtet. Jeder durfte ihn töten: Vogelfrei war er – zur Menschenjagd freigegeben.
Wo soll ich fliehen hin?

Die Antwort auf diese Frage kennen wir, Freunde und Unterstützer waren eingeweiht. Seine Kutsche wurde überfallen, er wurde „entführt“ und auf die Wartburg gebracht, alles aufs feinste inszeniert.  

Dieser Krimi - das ist mir im Jahr 2 meines Thüringer Lebens besonders bewusst, weil ich immer mehr mit den Lutherstätten verbinde - all das spielte sich hier bei uns quasi vor der Haustür ab. Vor genau 500 Jahren.

Was also ist für Paulus und für Martin Luther die Qualität christlicher, protestantischer Freiheit? Für Paulus ist Freiheit der Glaube, der durch die Liebe tätig wird. Freiheit ist immer bezogen auf andere, hat immer die Gemeinschaft im Blick und ihr Wohl. Ich schaue also nie nur auf mich selbst.
Luther ist gefangen im Worte Gottes, aus der Bindung an die Schrift kommt seine Freiheit. Weil er an Christus gebunden ist, ist er frei.

So, die Blitzbesuche sind beendet, wir sind zurück und hören nun die Antwort von Johann Sebastian Bach auf die existentielle Frage: Wo soll ich fliehen hin?
Treten Sie ein in den musikalischen Raum! Der, der uns frei macht, ist schon da.
Amen

Elke Rosenthal, Superintendentin des Kirchenkreises Arnstadt-Ilmenau (Predigt am Reformationstag 2021 in der Bachkirche Arnstadt)