Blick in die Höhe

In den kommenden Wochen wird in unseren Liedern ein Vokal herausragen bzw. herauszuhören sein:

Macht hoch die Tür oder O komm, o komm, du Morgenstern oder O Heiland, reiß die Himmel auf; dann singen wir zur Heiligen Nacht: O du fröhliche oder O Tannenbaum oder Ich steh an Deiner Krippen hier, o Jesu, Du mein Leben.

Es ist das "O", der Vokal O, der in den Liedern eine prominente Stellung einnimmt. Wenn wir die Vokale unseres Alphabetes durchsprechen, dann merken wir, wie unterschiedlich sie sind. Unsere Sprache lebt von Vokalen, aber auch von den Konsonanten. Andere Sprachen sind stärker durch den Klang der Vokale geprägt: das Italienische zum Beispiel; wir empfinden dies dann als wohltönend oder als volumiger im Klang.

Dem O in unserer Sprache kommt eine besondere Bedeutung zu. Spricht oder singt man das O, dann ist es wie ein Signal. Es ist ein Laut der Bewunderung, ja der Beschwörung. Wir sagen: „O, das hast Du aber schön gemacht“. Es kann auch ein Laut des Schreckens sein: „O, wie konnte das nur passieren!“ Immer aber drückt sich ein Wundern aus: eine Bewunderung oder eine Verwunderung.

Man sagt, dass das O zu den hohen und erhabenen Dingen ausgerichtet ist. Das gilt am ehesten noch für das A, für die anderen Vokale unserer Sprache nicht. Das O ist ein Laut, der den Menschen für den Bruchteil einer Sekunde „öffnet“.  Singe ich das O, so bin ich „geöffnet“. Insofern öffnet sich wie in einem Spiegel die Advents- und Weihnachtszeit durch das O – so wie ich mich öffne, wenn ich O sage oder singe.

Macht hoch die Tür – und die Tür ist hoch und weit. O Heiland, reiß die Himmel auf – und der Himmel ist aufgerissen. In den Liedern der beginnenden Advents- und Weihnachtszeit ist das O absichtlich so oft anzutreffen. Das O ist eben ein Laut für die Höhe.

Wir sind gerade verstrickt in Pandemiezahlen. Wir streiten uns über rettende Wege. Wir drehen uns scheinbar im Kreis. Wir brauchen den Blick in die Höhe. Wir warten darauf, dass Gott aus seiner Höhe zu Weihnachten zu uns kommt. Indem wir die Lieder singen, bereiten wir uns auf das Geheimnis der Weihnacht vor und üben uns und stimmen uns darauf ein. Eine gute Übung.       

Mathias Rüß, Pfarrer in Arnstadt