Eine Frage der Zeit

Waren Sie schon einmal in Halberstadt? Wie in so vielen mittelalterlichen Städten finden sich dort auf den Gassen, Straßen und Plätzen viele beeindruckende Kirchenbauten.

So die romanische Liebfrauenkirche, der gotische Dom mit dem bedeutenden Domschatz und dann etwas ab vom Schuss das ehemalige Kloster St. Burchardi – in dem ein ganz anderer Schatz aufbewahrt wird.
Nähert man sich dem Kirchengebäude, kann man es schon erahnen, betritt man den etwas heruntergekommen Raum, hört man es: Ein Klang aus mehreren Tönen, gespielt von einer Orgel, die man erst auf den zweiten Blick entdeckt.

Denn in dieser Kirche wird das Stück "Organ²/ASLSP" des amerikanischen Komponisten John Cage aufgeführt. As slow as possible, so langsam wie möglich, ist die Spielanweisung über dem Stück. In Halberstadt wurde das ernst genommen. 639 Jahre dauert die Aufführung. So fand der letzte Klangwechsel am 5. Oktober 2013 statt. Der nächste wird dieses Jahr, am 5. September 2020 stattfinden, der darauffolgende schon gleich darauf – nämlich am 5. Februar 2022.

Drrrp, drrrp. Mein Smartphone sendet mir eine Benachrichtigung. Ein Kollege entschuldigt sich, dass er sich erst jetzt meldet – etwa drei Stunden nach meiner Nachricht. Kein Problem, antworte ich, das nächste mal schreibe ich einen Brief, das sei auch besser für die Augen. Die ständige Erreichbarkeit durch die schwarzen Bretter tut niemandem gut – umso schöner, das John Cage in Halberstadt ein Gegenmodell dazu liefert.

„Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist.“ So steht es im Psalm 90. Nachdem man ein wenig Zeit in der kalten Kirche verbracht hat, bemerkt man den Klang fast nicht mehr. Er geht in einen über und man selbst ist Teil der Aufführung, ein kleiner Teil der großen Ewigkeit Gottes.