Balken im Auge

Eine Frau beklagte sich einmal bei einer Freundin über ihre Nachbarin, dass diese eine schlechte Hausfrau sei und man sich schämen müsse, sie als Nachbarin zu haben.

„Ihre Kinder gehen immer schmutzig aus dem Haus – und sieh nur die Wäsche draußen auf der Leine – lauter schwarze Streifen auf den Bettlaken.“ Da ging die Freundin zum Fenster und sagte schließlich: „Ich glaube, die Wäsche ist ganz sauber, meine Liebe, die Streifen sind auf deinen Fensterscheiben.“

Diese kleine Begebenheit passt gut zu einem Vers aus der Bibel, der da lautet:

„Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Gott, sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist.“ (Psalm 19,13)

Dass wir Menschen dazu neigen, eigene Fehler zu übersehen, die der anderen dafür gern umso deutlicher hervorzuheben, hat ja auch Jesus in seinem berühmten Wort angeprangert: „Was blickst du auf den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“ (Matthäus 7,3)

„Wer bemerkt seine eigenen Fehler?“ Ich denke, ein selbstkritischer Blick kann schon helfen, eigene Fehler zu erkennen und an seinen Schwächen zu arbeiten. Ich kann mir aber vorstellen, dass der zweite Satz dieses Spruchs manch einem unter uns unlogisch erscheint. Dass Gott gebeten werden kann, von Schuld frei zu sprechen, ist klar, aber was bedeutet es denn, von einer Schuld frei zu werden, die mir gar nicht bewusst war?

Ich denke, hinter diesem biblischen Satz steht die tiefe Erkenntnis, dass letztlich jeder und jede von uns immer wieder schuldig ist und wird. Und das nicht nur im alltäglichen Umgang miteinander hier und da, sondern generell sind wir Menschen in einen größeren Zusammenhang von Schuld verstrickt, der uns oft gar nicht so bewusst ist und aus dem wir auch gar nicht so leicht ausbrechen können. Ich denke da etwa an unsere „Mitschuld“ an den Ungerechtigkeiten dieser Welt, an das übermäßige Ausbeuten der Ressourcen dieser Erde oder auch an die Schäden, die Menschen der Umwelt zufügen.

Man könnte sagen: Jeder Mensch wird schuldig, ob er will oder nicht. Manches erkennen wir gar nicht oder erst sehr spät. Und so gesehen kann es mir schon helfen, Gott auch für das Verborgene um Vergebung zu bitten, für das Verdrängte, das Unbewusste. Und bei aller bewusster und unbewusster Schuld kann ich letztlich darauf vertrauen, dass Gott „barmherzig und gnädig ist, geduldig und von großer Güte“, wie es in einem anderen Psalm (Ps 86,15) ausdrückt wird.

Matthias Schubert, Pfarrer im Kirchenkreis Arnstadt-Ilmenau