Auf ihn

Mehr zufällig schaute ich in die herausgestellte Bücherkiste und entdeckte ein Mängelexemplar – 3,95 Euro. Es war von Christoph Hein und heißt: Glückskind mit Vater.

Eigentlich, dachte ich, dass es wieder mal ein typisches DDR-Aufarbeitungsbuch sei; ein wenig um den verlorenen Zeiten hinterherzutrauern oder geschickt Lebensgeschichten zusammenzubasteln.

Die Geschichte selbst ist schnell erzählt: Konstantin Boggosch wird drei Monate nach dem Tod seines Vaters geboren. Nur dass dieser Vater als SS-Offizier und berüchtigter Faschist von einem polnischem Standgericht im April 1945 hingerichtet worden ist. Der Vater hieß Müller; um diese Geschichte und um diesen Vater und um diesen Mann loszuwerden, nimmt die Mutter ihren Mädchennamen wieder an – und schafft es in den Wirren der ersten Besatzungszeit der SBZ auch die zwei Söhne umzubenennen – eben in Boggosch.

Dann erzählt das Buch die Geschichte dieses Konstantin Boggosch; eine Erzählung mit allen Facetten deutscher Geschichte: Verweigerung der Möglichkeit, das Abitur zu machen wegen des Vaters und Flucht in den Westen. Abenteurerjahre in Marseille; ausgerechnet die Rückkehr am Tag des Mauerbaus und dann eine mühsame Geschichte inmitten der DDR, die einigermaßen erfolgreich endet; auch eine sehr berührende und sehr traurige Geschichte der Liebe, die Konstantin erlebt.

Wie schön, dass ich eines Besseren belehrt wurde. Auf dem Hintergrund der DDR, ihrem Großwerden samt ihres Unterganges, entfaltet Christoph Hein ein sympathisches Panorama menschlichen Lebens. Niemand kommt aus dem Nichts und geht ohne Vorgeschichte durch die Welt. Immer sind wir schon wer. Und immer streben wir im Leben nach etwas – mit Mühe und auch Erfolg oder mit völlig anderen Ergebnissen als den erhofften.

Als würde sich die Geschichte der DDR besonders gut eignen, um klarzumachen: Du Mensch bist jemand, willst jemand sein und bist doch nicht wirklich frei. Ein Mängelexemplar. Wie das Buch selbst, dass diesen Stempel trägt. Ich finde die Fragen wieder, die auch ich mir stelle: Wie finde ich meinen Platz im Leben? Warum scheitere ich so oft, auch wenn ich bester Dinge bin? Warum sieht man mich nicht so, wie ich es mir wünsche? Bin ein "Mängelexemplar" – und eigentlich sind wir das wohl alle.

Aber dann müssen wir danach fragen, wie wir, eingedenk dieses Tatbestandes, gut leben können. Die christliche Theologie antwortet darauf seit Jahrhunderten, eigentlich völlig beständig: Mit dem Blick auf Christus sind diese Mängel behoben – hinweggefegt. Mit dem Blick heißt: indem du dir Trost und Hoffnung bei ihm erwünscht, ertrotzt, erglaubst, sind diese Mängel deines Wesens ertragbar – ja, abgegolten. Mit dem Blick auf ihn. Ein innerer Blick.

Auf ihn, Christus, kann Konstantin Boggosch nicht schauen. Ein ehemaliger Direktor einer Polytechnischen Oberschule kann das nicht. Aber ich finde, Christoph Hein ermutigt seine Leser, danach zu suchen – den richtigen Blick durch die Zeit hindurch zu finden. Auf ihn? Auf ihn!

Eigentlich aber ist dieser Konstantin Boggosch ein Mängelexemplar. Weil sein Leben nicht glatt lief? Weil er immer wieder konfrontiert wurde mit der Geschichte seines Nazi-Vaters und dafür haften musste, obwohl er ihn gar nicht kannte? Das Buch schließt jedenfalls versöhnlich. Aber hat es nicht all die Fragen gestreift, die auch ich mir stelle?

Woher komme ich? Wie finde ich meinen Platz im Leben? Wie gehe ich damit um, dass man mich verkennt; dass meine gute Absichten nicht zur Kenntnis genommen werden? Ein Mängelexemplar. Das sind wir wohl alle: Mängelexemplare. Mal gescheit und hoffnungsvoll und dann wieder zerstörerisch und voller schlechter Laune. Mängelexemplare – aber gerade darin liebenswert.

Christoph Hein hat mir eine große Freude gemacht mit diesem Buch. Immer wieder kann man, was Menschen erleben, neu ausloten. Und immer wieder ist es wichtig, in der Zeit zu leben, aber nicht von der Zeit: Verstehen Sie? In der Zeit leben, aber darum zu wissen, dass wir über die Zeit hinaus verantwortlich leben. Könnte ich erklären, was Gott für mich heißt, dann würde ich sagen: genau dies. 

Pfarrer Dr. Mathias Rüß, Arnstadt