Abendlied

Im Evangelischen Gesangbuch gibt es die Rubrik „Abendlieder“.

Da Gottesdienste oft am Morgen gefeiert werden, findet sich wenig Gelegenheit, Abendlieder zu singen. Viele bleiben unbekannt. Die Abendlieder spannen oft den Bogen vom Abend des Tages zum Abend des Lebens. Die letzte Strophe spricht oft davon: So wie sich der Tag neigt, so neigt sich auch das Leben.

Mir ist die zweite Liedstrophe eines englischen Abendliedes mit dem deutschen Titel: „Bleib, bei mir Herr! Der Abend bricht herein“ für dieses Wort zur Wochenwende in den Sinn gekommen. Da lautet die zweite Strophe:

„Wie bald verebbt der Tag, das Leben weicht,
die Lust verglimmt, der Erdenruhm verbleicht;
umringt von Fall und Wandel leben wir.
Unwandelbar bist du: Herr, bleib bei mir!“

Natürlich ändern sich unsere Lebensumstände. Unsere Lebensläufe würden davon beredt Zeugnis geben: Schrieben wir sie, stände da etwas von der Erweiterten Oberschule, dem Wehrdienst in der NVA der DDR oder auch der Währungsunion. Ja, wandelbar ist unsere Zeit. Wer ein wenig melancholisch auf die Zeit und ihre Änderungen schaut, würde wohl vom Fall sprechen.

Ach ja – und die Lebenslust, sagt der Dichter, sie verglimmt. Wie das Ende der Zigarette glimmend vergeht, so auch die Lust am Leben. So die Stimmung dieser Zeilen. Ja, ein Abendlied darf uns auch anregen zu nächtlichen Gedanken. Ganz sicher darf es Momente geben, in denen wir sinnieren und merken: alles vergeht. Der Abend lädt ja ein, Bilanz zu ziehen.

Ich schaue, was am Tag war und wie sich der Tag gefüllt hat. Habe ich mein Tagwerk getan? Ging alles gut an diesem Tag? Der Morgen ruft uns heraus zum Tagewerk – der Abend lädt uns ein zum Verweilen und Nachsinnen.

Aber dann heißt es überraschend und wohltuend heller als zuvor: „Unwandelbar bist du: Herr, bleib bei mir!“ Alles geht und vergeht und ändert sich, aber Du bist darin wie ein Fels, unwandelbar! Heute empfinden wir ja, dass sich die Dinge zu schnell wandeln, ja geradezu drehen und wir mitlaufen müssen, schneller und schneller.

Noch stärker als vor Jahrzehnten fließt die Zeit dahin; kaum haltbar. Kaum anzuhalten. „Du, Herr“, sagt der Dichter, „bist  unwandelbar!“ Gegen die beschleunigte Lebensfahrt steht da ein Halt. Wie ein Lichtstrahl erscheint der Ausruf. Wie schön, möchte man rufen: „Unwandelbar und verlässlich und tröstlich!“

Im Meer der Vergänglichkeit und des stetigen Wandels ist Gottes Unwandelbarkeit ein Anker in der Zeit. Das ist wohl das Entscheidende, und würde es das Wort Religion nicht schon längst geben, müsste man es jetzt erfinden: Religion oder Glaube als Chance, in dieser Welt zu bestehen und um in dieser Welt stehen zu bleiben, ja, Haftung zu finden. Eben einen Platz zu finden. Und in allem Übel, das Gute zu kennen. Dahin sehen zu können; auf das Gute – oder eben: auf Gott.    

Dr. Mathias Rüß, Pfarrer in Arnstadt