Wurzeln

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11 Vers 18)

Es gibt einen Irrtum, in den jede Generation schnell gerät, die gerade dabei ist, die Welt zu gestalten: Wer mitten in der Arbeit ist und Verantwortung trägt, glaubt, er hätte die Welt neu erfunden.  

Je älter man wird, um so deutlicher weiß man, dass das nicht wahr ist. Wer wird ernsthaft behaupten, wir hätten heute, die Fehler und Untiefen unserer Mütter und Väter hinter uns gelassen? Als vor einigen Monaten im Fernsehen die Serie „Babylon Berlin“ lief, fragte ich mich, was an den „Goldenen Zwanziger Jahren“ golden gewesen ist und  schauderte bei dem Gedanken, dass wir wieder in „Zwanziger Jahren“ leben, in denen wie damals die gleichen Menschenverachter schreien.

Aber auch die Menschlichkeit und das Gottvertrauen, dass viele heute dem Hass entgegenstellen, haben wir nicht „erfunden“. Es geht auch ein Fluss von Erbarmen, Liebe und Respekt durch die Geschichte. Wer sich an ihm orientiert, kann auf Wegen weiter gehen, die vor uns geebnet wurden.

Am Sonntag wird in unseren Kirchen daran erinnert, dass sich der christliche Glaube nicht selbst erfunden hat. Christen gehen Wege des Judentums weiter. Jesus war Jude.

Als in den Kirchen im vergangenen Jahrhundert diese selbstverständliche Tatsache verleugnet wurde, verrieten Christen nicht nur ihre Wurzeln, sondern Jesus selbst. Die Folgen waren die Ermordung von Millionen jüdischer Menschen und die unausdenkliche Schuld der uniformierten Mörder und der schweigenden Mehrheit, die sich oft für gut christlich hielt.

Es ist notwendig, es ist überlebenswichtig, nach seinen Wurzeln zu fragen. Der Erkenntnisgewinn kann das eigene Bild von der Welt heilsam in Frage stellen.

Christen erfahren von ihren jüdischen Wurzeln, Deutsche von ihren Vorfahren, die irgendwann aus Osteuropa  emigrierten oder selbst zu Flüchtlingen wurden, Russen können nicht mehr leugnen, dass sie ihre engsten Verwandten überfallen …

Ob wir uns taub und blind treiben lassen oder gegen den Strom der Menschenverachtung anschwimmen, muss jeder selbst entscheiden. Wahr bleibt es in jedem Fall: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“

Andreas Müller, Pfarrer im Ruhestand