Unverschämt sein

Beten ist zeitlos und unzeitgemäß zugleich.

So sinnvoll es ist, sich in eine regelmäßige Gebetspraxis einzuüben – zum Beispiel die Mahlzeit mit einem Dank für den gedeckten Tisch zu beginnen oder am Abend, am Übergang vom Tag zur Nacht das Gewesene in Gottes Hände zu legen - so ist doch unser Gebet oft gar nicht an feste Zeiten gebunden.

Zum Beten werden Menschen meist durch Unvorhergesehenes veranlasst: Wenn eine Notsituation eingetreten ist, die Krankheit eines Familienmitgliedes, der plötzliche Tod - dann fordert das unser Gebet heraus. Aber beten wir wirklich immer erst dann, wenn es spät, ja zu spät ist? Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgereizt sind?

Es gibt doch auch die Menschen, bei denen es wie zum täglichen Brot gehört, die Hände zu falten, Gott anzurufen und um Hilfe zu bitten, zu klagen, zu loben und zu danken. Sie wohnen Tür an Tür mit jenen, deren Ohren scheinbar verschlossen sind, die bisher nichts von Gott vernommen haben außer sein Schweigen, Menschen, deren Flehen immer wieder ins Leere zu gehen scheint, wie Jesu Schrei am Kreuz: Warum hast du mich verlassen?

Und dennoch wirbt Jesus immer wieder neu um unser Vertrauen: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan (Mt 7,7.8).

Könnte es sein, dass wir auch hier einem Optimierungswahn unterliegen, weil alles so sein muss, wie ich es will? Dass wir geistlich zu wenig Geduld aufbringen, manchmal viel zu früh resignieren, dass wir aufgeben – bevor wir überhaupt angefangen haben mit unserem Gebet?

Betet – das heißt: versinke nicht in Sprachlosigkeit. Sei unverschämt und wende dich an Gott mit deinem Dank und deiner Bitte um Hilfe. Bringe dein Anliegen vor und lass dich nicht abwimmeln; weil du meinst, es sei unzeitgemäß, dass gerade ich mich gerade jetzt an Gott wende.

Wenn du anfängst zu beten, dann ist das ein erster Schritt aus der Resignation, dann tust du etwas gegen das Gefühl der Ohnmacht. Darum: Fass in Worte, was du brauchst. Und wenn dir die Worte fehlen – Gott weiß um deine Bitte. Aber bete!

Stell dich in sein Licht und seinen Sprachraum und siehe: du wirst dich verändern. Dein Hören und Sehen wird sich öffnen, so dass du mit anderen Augen und neu auf die alten Verhältnisse, die dich bedrücken und bedrängen, schauen und dann auch Licht sehen kannst (Psalm 36,10).

Thomas Kratzer, Pfarrer in Arnstadt