Neugeboren

Lange, bevor wir geboren wurden, etwa ab der Hälfte der Schwangerschaft war unser Gehör schon vollkommen ausgebildet.

Ab der 24.Woche hört der kleine zukünftige Mensch. Er hört etwas, ohne es zu kennen. Neben allem, was sonst noch an sein Ohr dringt: Stimmen, Musik, Geräuschen. Er hört den Herzschlag der Mutter. Dieser Herzschlag kennt keine Pause. Er ist immer da. Er ist Nähe, Geborgenheit.

Ich stelle mir vor, dass die ständige Gegenwart dieses verlässlichen Rhythmus' in dem kleinen Menschen, der sich auf die Geburt in die Welt vorbereitet, Grundvertrauen entstehen lässt.
Manche Menschen sagen: Ich glaube, dass da etwas ist. Wir sind, schon vor unserer Geburt mit einem Rhythmus verbunden, der ganz bei uns ist, bei dem wir ganz bei uns sind. Wir werden mit der Idee einer Urbeziehung geboren, sie ist uns geschenkt.  Sie gibt Geborgenheit für das, was kommt: Ein Leben voller Widersprüche, Gefahren, Schönheit, Liebe und Glück.

Quasimodogeniti heißt der Sonntag nach Ostern, deutsch: Wie die neugeborenen Kinder.
Shutdown: Stillstand. Die letzten Wochen waren durch sehr vielfältige Erfahrungen geprägt. Eine der schönen Erfahrungen: Das reine Himmelsblau, das Durchatmen der Natur. Gerüche, Farben, Musik, Menschen und Menschlichkeit – und für mich auch Gebete, Gemeinschaft, Texte unserer religiösen Tradition.

Zerbrechlich ist das Menschenleben. Die Wirklichkeit kann zerfallen, haben wir auch erfahren. Gott sei Dank ist bei uns die große Erkrankungswelle vor Ostern ausgeblieben. Hoffentlich kommt sie nicht noch. Viele Menschen bemühen sich sehr darum.  Und nun? Wie weiter? 

Vielleicht haben wir jetzt, nachdem so vieles erst einmal heruntergefahren ist, die letzte Chance, etwas zu verändern.  Kirchen könnten ihr Bemühen im konziliaren Prozess, der 1983 begonnen hat – für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – aktiv wieder aufnehmen.

Quasimodogeniti: Geburt ist manchmal wie das Ringen mit den Kräften zwischen Leben und Tod. Einer der Predigttexte für den Sonntag erzählt vom biblischen Jakob: Von seinem  Ringen mit Gott um den Segen für die eigene Identität, für das Leben mit seinen Brüchen. Er erhält den Segen und geht weiter. Geburt geht in Richtung Zukunft. Es gibt eine Beziehung, die geht uns voraus und die tragen wir in uns.

Pastorin Christiane Kahlert, Gefängnisseelsorgerin JVA Arnstadt